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"Liebster Vater..." - Kafkas "Brief an den Vater" im Porträt

Der Brief schildert Kafkas Verhältnis zu seinem Vater, das von Unverständnis geprägt war.
Der Brief schildert Kafkas Verhältnis zu seinem Vater, das von Unverständnis geprägt war.
Im Jahre 1919, nur wenige Jahre vor seinem Tod, schrieb Franz Kafka einen ausführlichen Brief an seinen Vater, den er jedoch nie abschickte. Wenn Sie einen geeigneten Einstieg suchen, sich in Kafkas Welt hineinzuversetzen, ohne sofort seine Erzählungen oder Romane zu lesen, könnte dies die passende Lektüre sein. Der Brief enthält nicht nur eine psychologisch ausgefeilte Darstellung von Kafkas Vaterkonflikt, sondern auch einige Rahmeninformationen seiner Biografie.

"Brief an den Vater" - Zum Inhalt

Der Brief Kafkas an seinen Vater stellt weniger einen tatsächlichen Versuch dar, die Kommunikation zwischen den beiden zu verbessern, da der Vater nie die Gelegenheit bekam, ihn zu lesen, sondern ist eher eine Auseinandersetzung des Sohnes mit seinem eigenen Leben und den Problemen, die das zerrüttete Vater-Sohn-Verhältnis ausgelöst hat.

  • Schon in der scheinbar liebevollen Anrede "Liebster Vater" erkennen Sie das gespaltene Verhältnis Kafkas zu seinem Vater, den er gleichzeitig liebt und hasst, gleichzeitig verehrt und fürchtet. So beschreibt Kafka die Frage seines Vaters, warum er ihn so fürchte, als konkreten Auslöser des Briefes.

  • Im Laufe des Briefes, der die gewöhnlichen Ausmaße eines solchen stark übersteigt und Ihnen vielleicht eher wie ein ausgefeilter Essay erscheint, macht Kafka seinem Vater einen Vorwurf zu verschiedensten Verhaltensweisen, wobei er ihn jedoch nicht allein beschuldigt, sondern immer wieder auch die Schuld bei sich selbst sucht, was seinen eigenen inneren Konflikt noch mehr hervorhebt.
  • Den Hauptgrund für das gespannte Verhältnis zu seinem Vater beschreibt Kafka darin, dass beide so gegensätzliche Charaktere hätten und sein Vater ihn und seine persönlichen Vorstellungen weder verstehe noch akzeptiere. Eines der Hauptprobleme ist hierbei die Tatsache, dass der Vater in Kafkas Augen mitverantwortlich ist für das Scheitern seiner Heiratsversuche, da sein Vater weder mit der Brautwahl, noch mit der Entscheidung zur Ehe an sich einvestanden zu sein schien.
  • Ein weiterer herber, aber auch aus heutiger Sicht nur allzu nachvollziehbarer Vorwurf zielt darauf ab, dass Kafkas Vater in der Familie Regeln aufstellte, die scheinbar willkürlich gewählt wurden und die alle anderen zu befolgen hatten, während er sich als Vater darüber hinwegsetzen konnte. Kafka beschreibt seine  Welt infolgedessen als in drei Teile gespalten: In einer Welt sah er sich als "Sklave", der ihm selbst unverständliche Gesetze zu befolgen hatte, in einer zweiten Welt war sein Vater, der nach Belieben Regeln aufstellen konnte, die jedoch nicht für ihn galten. Die dritte Welt dagegen war eine Welt voller Freiheit, in der sich alle anderen Menschen aufhielten, die jenseits von Regeln und Gesetzen nach ihren eigenen Vorstellungen leben konnten.
  • Einen entscheidenden Aspekt des Briefes bildet die Religion. Kafka beschreibt seinen Vater als streng religiösen Juden, dem jedoch die Rituale und der Gang in die Synagoge wichtiger sind als der persönliche Glaube. Insofern wirft er seinem Vater einerseits ein "Nichts an Judentum" vor, indem er vorgibt etwas zu sein, was er von seiner Überzeugung her gar nicht ist, und andererseits die Tatsache, dass er seinen Sohn zu derselben Heuchelei und Gleichgültigkeit zwingt.

Zur Interpretation des Vater-Sohn-Konflikts

Zwar ist der "Brief an den Vater" genau genommen kein Bestandteil der Literatur von Franz Kafka, wie es die Romane und Erzählungen sind, doch ermöglicht er Ihnen gewiss einen Einblick in seine Biografie und sein soziales Umfeld.

  • Viele Aspekte des Briefes zeigen, dass es sich hier nicht allein um eine Aufarbeitung des offensichtlich vorliegenden Vater-Sohn-Konfliktes handelt, die vom Wunsch nach einer besseren Kommunikation geprägt ist, sondern auch um eine detaillierte Auseinandersetzung mit seiner eigenen Psyche. Kafka beschreibt sich in Gegenüberstellung mit seinem Vater stets als schwach, kraftlos und schüchtern, während er den Vater als "Riesen" bezeichnet, der vor männlichen Tugenden nur so strotzte.
  • Dass sich Kafkas Selbstwahrnehmung nicht immer mit der Realität überschneidet, belegt die Stelle, in der er über seine Schulzeit spricht, die durchgängig von der Angst geprägt war, durchzufallen, obwohl dies nicht einmal ansatzweise zu befürchten gewesen wäre. 

Literarische Auswirkungen

Zwar ist der Brief erst wenige Jahre vor Kafkas Tod entstanden, doch dass es sich hier um eine lange Entwicklung handelt, die erst hier in Form der Niederschrift zu einem Höhepunkt gelangte, zeigt sich in einigen Werken Kafkas, die mehr oder weniger subtil auf die schwierige Vater-Sohn-Beziehung hinweisen.

  • Die harsche Ausdrucksweise seines Vaters, andere Menschen teils als Ungeziefer zu bezeichnen, finden Sie in Kafkas berühmter Erzählung "Die Verwandlung", in der die Metapher zur Realität wird.
  • Auch "Das Urteil" handelt von einem Vater-Sohn-Konflikt, der hier sogar mit der sprichwörtlichen Vollstreckung des Todesurteils endet, das vom Vater ausgesprochen und vom Sohn vollzogen wird.
  • Der Roman "Der Prozess" handelt von einem 30jährigen Mann, der verhaftet wird, obwohl er kein Verbrechen begangen hat. Dies könnte unter Umständen eine Verarbeitung der ewigen Vorwürfe seines Vaters sein, der ihn stets beschuldigte, ohne dass Kafka sich seiner Schuld bewusst wäre. Dass der Roman, ebenso wie "Das Urteil" mit dem gewaltsamen Tod des Protagonisten endet, zeigt erneut die tiefe psychologische Bedeutung des Vater-Sohn-Konflikts für Kafka selbst.
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