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Das Groteske in Franz Kafkas Roman „Der Proceß“

Prag: Ohne Kafkas Romane nicht mehr denkbar
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Franz Kafkas fragmentarischer Roman "Der Proceß" ist in besonderem Maße doppelbödig und paradox. Die Liste an Interpretationsansätzen ist lang, der Deutungsprozess nicht abgeschlossen. Das legt den Versuch nahe, das Groteske auf Kafkas Roman zu beziehen; jenes Phänomen, das sowohl Grauen als auch Lachen erregt und ähnlich widersprüchlich und ambivalent ist, wie "Der Proceß" selbst.

Das Groteske ist kein klar fassbares Phänomen: es ist uneindeutig in seinem Begriffsgebrauch, ambivalent in seiner Wirkung, es ist paradox und chaotisch, vermischt Unvereinbares, zerstört Erwartungshorizonte und provoziert Desorientierung. Aus diesem Grund werden zunächst stark verknappt die Merkmale des Grotesken geklärt, bevor es auf Franz Kafkas Roman "Der Proceß" angewendet wird.

Die Merkmale des Grotesken

  • Das Wort "grotesk" leitet sich von dem italienischen Wort "grottesco" her, das "nach Art der Grottenbilder" heißt. Damit sind Thermen und Paläste gemeint, die Ende des 15. Jahrhunderts bei Ausgrabungen in Rom entdeckt wurden. Die Wände waren mit ornamentalen Malereien verziert, die ineinander verschlungene Pflanzen, Tiere und Menschen zeigten.
  • Diese Ornamente entsprachen keiner bekannten Ordnung und weisen auf ein erstes wesentliches Merkmal des Grotesken. Es hebt Ordnungsstrukturen auf und entbindet damit kreatives Potenzial. Solche Ordnungsstrukturen sind beispielsweise die Verhaltensordnung, das heißt Sitte, Moral und Recht, die Sprach- und daran anknüpfend die Erkenntnisordnung, also Logik.
  • Die Auflösung kultureller Ordnungen vollzieht sich im Grotesken mittels der Mechanismen der Verkehrung, Vermischung und Verzerrung. Beispiele hierfür sind die Verkehrung von Traum und Wirklichkeit; ins Monströse verzerrte oder deformierte Figuren, wie Riesen, Zwerge und Bucklige; die Chimäre, die ein mythologisches Mischwesen aus Schlange, Löwe und Ziege ist.
  • Auf sprachlicher Ebene ist das Wörtlichnehmen von Wendungen und Metaphern ein Beispiel der Verkehrung. Worte, die mehr als nur eine Bedeutung haben, also Polyseme, sind Beispiele für Vermischung. Umgekehrt ist die Häufung von Synonymen, etwa seitenlang hintereinander weg aufgezählt, ein Beispiel für Verzerrung.
  • Somit ist das Groteske, anders als das Absurde, nicht durch einen Bedeutungsverlust gekennzeichnet. Durch Verzerrung, Verkehrung und Verschiebung wird vielmehr eine Bedeutungsverschiebung bewirkt, die das Groteske als etwas Spielerisches und Kreatives auszeichnen.
  • Mit Blick auf die Wirkung sind im Grotesken des Weiteren zwei unterschiedliche Bereiche miteinander vermengt: das Komische, Lachen Erregende und das Erschreckende, das das Fremde und Dämonische betont. Ursache hierfür ist die Vermischung des Unvereinbaren im Grotesken, bedingt durch das Auflösen bekannter Ordnungen und Kategorien.

"Der Proceß" und seine Struktur

  • Franz Kafkas 1914 begonnener Roman "Der Proceß" ist Fragment geblieben und vom Autor nie beendet worden. Er besteht aus mehreren, in sich abgeschlossenen Kapiteln. Sie haben jedoch keine, von Kafka bestimmte Reihenfolge, sondern sind theoretisch, Anfangs- und Schlusskapitel ausgenommen, beliebig und spielerisch austauschbar.
  • Weiterhin ist die personale Erzählperspektive ein erstes Indiz für groteske Vermischung, denn sie ist tatsächlich eine indirekte Ich-Perspektive, die sich leicht in eine solche umwandeln lässt. Diese als "Einsinnigkeit" zu bezeichnende Perspektive ist auf die Wahrnehmung und Beobachtung der Hauptfigur beschränkt. Dadurch wird ein sogenannter "Zirkel von Innen und Außen" erzeugt: Außen stattfindendes Geschehen lässt sich leicht als innerpsychisches umdeuten. Beide Bereiche sind vermischt, was Mehrdeutigkeiten produziert.
  • Daran anschließend ist der Romantitel ein weiterer Hinweis auf Groteskes. Das Wort "Prozess" ist ein Polysem und somit nicht mehr ganz eindeutig dem Gericht zugeordnet. Infrage kommt ebenso, bezogen auf die Hauptfigur Josef K., ein Entwicklungs- beziehungsweise Erkenntnisprozess oder ein Schreibprozess - entweder der Gerichtsbeamten oder von Kafkas Roman selbst.

Eindeutig uneindeutig - Sprachgrotesken bei Franz Kafka

  • Mehrdeutigkeiten durchziehen den gesamten Roman, was an dieser Stelle nur sehr verkürzt und beispielhaft an dem Wort "Gericht" deutlich gemacht wird. Dies bezeichnet zu Beginn des Romans nicht nur die Behörde, vertreten durch die Beamten in K.s Wohnung, sondern auch das Essen, genauer gesagt das Frühstück, nach dem Josef K. läutet. Jene Anfangsszene löste, laut einem Bericht von Max Brod, bei Kafka selbst Lachanfälle aus, als dieser daraus vorlas.
  • Neben solchen Vermischungen finden sich Verkehrungen, indem Begriffe wörtlich genommen werden, zum Beispiel "Amtsgeheimnis". Bei dem Gericht, das Josef K. anklagt, handelt es sich um ein "geheimes Gericht" - derart geheim, dass weder den unteren Beamten noch Angeklagten die Anklageschrift bekannt ist. Das "Amtsgeheimnis" ist derart wörtlich genommen, dass das Wort "Geheimnis" auf die Behörde selbst verweist.
  • Weiterhin ist das Wort "geheim" ein prägnantes Beispiel für ein schimärisches Polysem, in dem sich mehrere Bedeutungen vermischen. Hinter dem Wortstamm "heim" versteckt sich das "Heimische" und mithin "Vertraute". Somit vereint das Wort "geheim" zugleich Verborgenheit oder Fremdheit, und Vertrautheit in sich.
  • Das "geheime" Gericht ist damit zugleich das vertraute Fremde und das fremde Vertraute, das wie selbstverständlich bei Josef K. ein- und ausgeht, auf Dachböden und Wohnungen in Mietshäusern tagt oder deren Beamte im Bett arbeiten. Innen und außen, öffentlich und privat gehen, im Sinne des "Zirkels von Innen und Außen", Hand in Hand. Damit weisen auch die Rechtsbegriffe "Urteil", "Schuld", "(Un-)Recht", "Anklage", "Prozess" oder "Verhaftung/Verhaftetsein" auf zwischenmenschliche Konflikte beziehungsweise innerpsychische Vorgänge Josef K.s und werden mehrdeutig.

Abgründiger Humor im "Proceß"

  • Wörtlich genommen und im weiteren Sinne grotesk sind auch die Figuren in "Der Proceß". Neben der Hauptfigur Josef K. ist auch der Kaufmann Block ein Angeklagter. Der lebt nicht nur wie, sondern ist tatsächlich "der Hund des Advokate". Die Unterwerfungsgesten Blocks wirken dabei nicht selten komisch, wenn er zum Beispiel "mit einer Hand vorsichtig das Federbett" des Advokaten streichelt.
  • Eine andere, auf sprachlicher Ebene sich konstituierende Mensch-Tier-Chimäre ist der Bankangestellte Kaminer, der einen "eleganten Trab" anschlägt, wobei hier die Redewendung "jemanden auf Trab bringen" wörtlich genommen und szenisch umgesetzt ist.
  • Slapstickhafte Übertreibung findet sich in der Gestik vieler Figuren, zum Beispiel bei Kullich, der ein "Papier schwenkend in lebensgefährlichen Sprüngen" hinter K. herspringt, was ins Übermäßige verzerrt wirkt.
  • Besonders auffällig sind aber die Angeklagten, für die eine gebückte Haltung charakteristisch ist. Damit sind sie als Bucklige nicht nur partiell verzerrt, sondern verkörpern die Erniedrigung durch das Gericht. Das liegt nicht zuletzt an den engen und niedrigen Räumen des Gerichts, "wo die Leute nur gebückt stehen konnten und mit Kopf und Rücken an die Decke stießen". "Erniedrigung" ist somit sowohl doppeldeutig als auch wörtlich genommen. 
  • An diesen Beispielen lässt sich die groteske Wirkung, sehr gut ablesen, insofern sie Schrecken und Lachen erzeugt. Was auf den ersten Blick komisch wirkt, verkehrt sich beim zweiten Blick in Entsetzen. Das Gericht beraubt die Angeklagten ihres Lebens ebenso wie die Figuren unter- und gegeneinander Macht ausüben, sei es der Advokat, der Block oder Josef K., der die Bankangestellten als Hunde behandelt und demütigt.

Bereits an diesen wenigen Beispielen sollte deutlich geworden sein, wie sich das Groteske in Franz Kafkas Roman "Der Proceß" gestaltet und manifestiert. Es löst beim Leser nicht nur Lachen, sondern ebenso Entsetzen aus angesichts einer verkehrten Welt, in der die Figuren verzerrt und die Bedeutungen vielfach sind. Eine sich damit auch als amoralisch und unrecht ausweisende Welt verweist nicht zuletzt auf die kritische Funktion des Grotesken. Im Fokus der Kritik steht hier vor allem der riesige moderne Bürokratie- und Beamtenapparat, dessen Auswüchse auch heute noch gern als "kafkaesk" bezeichnet werden.

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