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Zeilensprung im Gedicht erkennen und deuten - Anleitung

Ein Zeilensprung kann viel bedeuten.
Ein Zeilensprung kann viel bedeuten.
Welcher Schüler oder Student kommt nicht mindestens einmal während seiner Ausbildung in die Situation, in der er sich an einer Gedichtinterpretation versuchen muss? Ein beliebtes stilistisches Mittel ist beispielsweise der Zeilensprung - können Sie diesen in einem Gedicht richtig erkennen und deuten, wird Ihnen die Interpretation schon einmal um einiges leichter fallen.

Daran erkennen Sie einen Zeilensprung

Bei einem Zeilensprung, auch Enjambement genannt, wird ein Satz im Gedicht nicht mit dem Ende des Verses beendet, sondern in dem darauf folgenden Vers weitergeführt. Der Satz springt quasi in die nächste Zeile - daher der Name "Zeilensprung".

  • Ein häufig erwähntes Beispiel kommt in der ersten Strophe des Gedichtes "Tränen in schwerer Krankheit", verfasst im Jahre 1640 von dem barocken Dichter Andreas Gryphius, vor. Hier heißt es im dritten bzw. vierten Vers: "Und tausend fürcht‘ ich noch; die Kraft in meinem Herzen / Verschwindt, der Geist verschmacht‘, die Hände sinken mir."
  • Wird ein Satz oder auch ein Nebensatz beendet, schließt ihn der Schreiber mit einem Satzzeichen, entweder einem Punkt, einem Komma, einem Doppelpunkt oder einem Semikolon, ab. Wird in einem Gedicht hingegen ein Zeilensprung verwendet, so wird der Vers, in dem er zu verorten ist, nicht mit einem Satzzeichen abgeschlossen.  
  • Im mündlichen Vortrag können Sie das Vorhandensein eines Zeilensprunges in einem Gedicht ebenfalls erkennen, wenn auch nicht ganz so problemlos wie in der geschriebenen Version. Achten Sie hier gezielt auf Sprechpausen, die der Vortragende einlegt, um seinen Vortrag zu strukturieren.
  • Wäre anhand der Anzahl der Silben oder Reime eine Sprechpause angebracht, folgt jedoch keine, so ist an dieser Stelle ein Enjambement vorhanden. Bei einem Zeilensprung wird nämlich ein Satz in den nächsten Vers hinein weiter geführt - eine Sprechpause ist damit innerhalb des Satzes, obwohl der Vers an seinem Ende angekommen ist, nicht vonnöten.

Das Enjambement im Gedicht analysieren

  • Da ein Zeilensprung im Gedicht den Satz, in dem er steht, in den nächsten Vers hinein weiterführt, führt er auch den Sinn dieses Satzes über die Zeilengrenzen hinweg weiter. So wird die Bedeutung des ersten Verses thematisch mit der des zweiten Verses verbunden.
  • Kommen Sie Leser beim Studieren eines Gedichtes an ein Versende, so stellt sich in Ihren Gedankengängen bewusst oder auch unbewusst eine kurze Unterbrechung ein. Während dieser Unterbrechung machen Sie sich Gedanken darüber, wie der Satz, in dessen Mitte Sie gerade stecken, wohl weitergehen mag - eine gewisse Erwartungshaltung stellt sich ein.
  • Der Zeilensprung ist nun das ideale Mittel, um mit dieser Erwartungshaltung des Lesers zu spielen. Er kann solch eine Erwartung vor dem Zeilensprung bewusst erzeugen, um sie anschließend zu enttäuschen. Dadurch wird der Leser überrascht und der Unterhaltungswert des jeweiligen Gedichtes steigert sich für ihn wesentlich.
  • Darüber hinaus hat ein Zeilensprung in einem Gedicht auch eine explizite stilistische Funktion. Das Fortführen eines Satzes über Versgrenzen hinweg unterbricht die Monotonie des Silben-  und Reimschemas. Der Text lässt sich deshalb flüssiger und mit größtmöglicher Harmonie lesen.
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