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Glas fließt - eine Erklärung aus der Physik

Sind alte Kirchenfenster unten wirklich dicker?
Sind alte Kirchenfenster unten wirklich dicker?
Glas, ein durchaus als solide angesehener Werkstoff, fließt tatsächlich, wenn auch extrem langsam. Die Physik erklärt dieses seltsame Verhalten, und warum Kirchenfenster nicht fließen.

Glas ist ein besonderer Stoff

Glas ist (fast) beliebig form- und gestaltbar, beständig und säureresistent. Und viele Gläser sich sogar durchsichtig - anders hätte der Einsatz von Glas als Fenster keinen Sinn. Glas wird daher in vielen Bereichen, nicht nur des täglichen Lebens, eingesetzt. Da ist es schon schwer vorstellbar, dass ein so "fester" Werkstoff wie Glas fließen soll. Doch Experimente belegen durchaus, dass Glas fließt.

  • Tatsächlich sind es nicht diese mehr alltäglichen Eigenschaften, sondern ein besonderes physikalisches Verhalten, das Glas zu einem wirklich interessanten Stoff werden lässt:
  • Glas ist kein Festkörper im üblichen Sinne, es verhält sich anders als Metalle oder Kristalle, denn Glas ist nur scheinbar fest.
  • Andererseits ist Glas aber auch keine Flüssigkeit, so wie Physiker sie kennen.
  • Feste Körper entstehen normalerweise aus Flüssigkeiten, indem diese bei der Erstarrungstemperatur (oft identisch mit der Schmelztemperatur) in eine mehr oder weniger geordnete kristalline Form übergehen. So gefriert Wasser zu Eis mit fester Kristallstruktur.
  • Ein solcher Phasenübergang von flüssig nach fest, wie dies in der Physik auch genannt wird, ist mit einer erheblichen Energieabgabe verbunden. Eis hat so das Problem der Wärmeabgabe beim Gefrieren. Bei Glas lässt sich solch ein Übergang, der zudem von einem Temperaturhaltepunkte begleitet wird, experimentell nicht beobachten.
  • Eine Glasschmelze geht, auch bei ganz langsamer Abkühlung, nicht in den kristallinen Zustand über, sondern verbleibt als eine Art unterkühle Schmelze.
  • Viele Wissenschaftler bezeichnen Glas in diesem Zustand weiterhin als Flüssigkeit, allerdings hat sich dafür die Bezeichnung "Glaszustand" eingebürgert.

Glas fließt - wenn auch zäh

  • Glas befindet sich daher immer in einem nahezu unmerklichen Zustand: Es fließt. Die Moleküle sind in einem ungeordneten Stadium zwischen dem flüssigen und dem festen Zustand geblieben.
  • Allerdings hat die Glasschmelze schon bei weit höheren Temperaturen eine so höhe Zähflüssigkeit, dass die einzelnen Moleküle das wohlgeordnete Kristallgitter gar nicht mehr bilden können.
  • Warum sich Glas so verhält, ist noch nicht abschließend geklärt. Wie Experimente zeigen, hat Glas keine einheitliche Dichte. Es bildet Molekülinseln, in denen sich eine große Menge der fest aneinander gebundenen Grundbausteine aus Silizium und Sauerstoff befinden.
  • Diese Bereiche sind nur locker aneinander gebunden und lassen sich beim weiteren Abkühlen letztendlich nicht mehr zu einem Festkörper vernetzen. Man kann sie, ähnlich wie die Moleküle in einer Flüssigkeit - nur größer - gegeneinander verschieben.
  • Das Rätsel der "fließenden Kirchenfenster", die angeblich unten dicker sein sollen, lässt sich mit diesem merkwürdigen Glaszustand allerdings nicht erklären. Genauere Untersuchungen sehr alter Fenster zeigten nämlich, dass es auch eine Anzahl von Butzenscheiben gibt, die an anderen Stellen dicker sind. Die ungleiche Glasverteilung ist also eher auf ihren speziellen Herstellungsprozess zurückzuführen.
  • Kaltes Glas fließt jedoch tatsächlich, aber nicht in den zeitlichen Dimensionen, die bei solchen Fenstern auftreten.
  • Übrigens: Auch bei Metallen und einigen Legierungen kann man die Kristallisation durch ein sehr schnelles Abkühlen unterdrücken. Sie liegen dann in einer sog. amorphen Struktur vor und werden als metallische Gläser bezeichnet.
helpster.de Autor:in
Dr. Hannelore Dittmar-Ilgen
Dr. Hannelore Dittmar-IlgenHannelore hat Mathematik, Physik sowie Chemie und Pädagogik studiert und erklärt diese schwierigen Themenfelder schon immer gerne ihren Mitmenschen. Auch über ihre Hobbys schreibt sie leidenschaftlich gerne, das können unsere Leser in den Kategorien Essen & Trinken sowie Handarbeit entdecken. Sie ist eine unserer fleißigsten Autorinnen der ersten Stunde von HELPSTER.
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