Kennzeichen der expressionistischen Epoche
Lyrik ist genau in dem Moment schwierig zu interpretieren, wo sie in luftleerem Raum steht. Faktisch tut sie das aber nie, sie ist immer ein Kind ihrer Zeit: ein Resultat aus den soziokulturellen Entwicklungen und politischen Vorkommnissen, mit denen die Dichter konfrontiert wurden.
- Da Sie Lyrik nur dann sinnvoll interpretieren können, wenn Sie über ein gewisses Grundwissen bezüglich der dazugehörigen Epoche verfügen, sollte Ihr erster Schritt immer der zu einer Enzyklopädie sein, die Ihnen eben dieses Wissen vermittelt. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob es sich um Kindlers Literaturlexikon handelt oder Wikipedia. Nehmen Sie diesen Schritt ernst. Selbst, wenn Sie sich nur fünf Minuten mit dem Thema auseinandersetzen, wird es schon einen großen Unterschied machen.
- Wenn Sie sich mit dem Expressionismus in der Literatur befassen, werden Sie in erster Linie herausfinden, dass diese Strömung ein deutsches Phänomen war, das (hauptsächlich) die 1910er Jahre hervorbrachten. Inhaltlich stand vor allem der Identitätsverlust im städtischen Raum im Vordergrund. Die mechanisierte, industrialisierte bürgerliche Gesellschaft, die den Einzelnen sowohl räumlich, als auch psychisch und emotional einschloss. Die expressionistische Strömung sah sich als Befreiungsversuch aus diesem gesellschaftlichen Korsett.
- Der erste Weltkrieg stellte innerhalb der Epoche einen entscheidenden Wendepunkt dar. Anfänglich noch als der erlösende Umbruch wahrgenommen, stellten viele der noch jungen Expressionisten in den Schützengräben fest, dass es sich mitnichten um das ersehnte neue Zeitalter handelte, sondern um einen neuen Gipfel der Entmenschlichung. Nun waren nicht mehr nur die Städte ein Hauptthema der Bewegung, sondern auch die Grausamkeiten des Krieges. Besonders deutlich wird die Verarbeitung dieser Traumata in den letzten Gedichten Georg Trakls, die er vor seinem Tod im November 1914 verfasste.
Die Interpretation von Lyrik beginnt beim Autor
- So unerlässlich ihre Entstehungszeit für den Zugang zu Gedichten ist, so wichtig sind auch die Autoren selbst. Wer sich auch nur ein wenig mit der Bioagrafie eines Poeten vertraut macht, wird einen ganz anderen Blick auf sein Werk haben. Lyrik ist in den meisten Fällen ein sehr viel persönlicherer Ausdruck eines Literaten, als dies bei Prosa der Fall ist. Deshalb ist das Leben des Autors der beste Lektüreschlüssel.
- Ein Beispiel sei hier Gottfried Benn, dessen expressionistische Gedichte "Kleine Aster" und "Mann und Frau gehn durch die Krebsbarracke" viel einfacher zu verstehen sind, wenn man weiß, dass ihr Autor Facharzt für Haut und Geschlechtskrankheiten war und um die Entstehungszeit jener Gedichte herum Assistent in der Pathologie war. Nicht von ungefähr sind jene Werke als Teile des sogenannten Morgue-Zyklus entstanden (Morgue = Leichenschauhaus). Die Anmerkung, dass die Werke eine Verarbeitung seiner Erfahrungen und Empfindungen zu jener Zeit sind, erübrigt sich. Auch hier ist übrigens die epochentypische Entmenschlichung ein ganz zentrales Thema.
Meist sind Gedichte in der Ich-Form verfasst, doch von dieser Regel gibt es Ausnahmen. So ist der …
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Sie sich schon mit zehn Minuten Rechercheaufwand unglaublich praktische Werkzeuge der Gedichtsinterpretation aneignen können. Natürlich ließe sich expressionistische Lyrik mit einem soliden Grundwissen bezüglich literarischer Stilmittel noch besser dechiffrieren, doch selbst ohne zu wissen, was eine Ellipse oder ein Jambus ist, lässt sich viel aus einem Gedicht herausholen.
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