Standhaft! - ZNS-Physiotherapie gegen Stand- und Gangunsicherheiten
Gangunsicherheiten, fehlende Muskeleigenspannung und Muskelzittern. Als ich zu meiner ersten Physiotherapiebehandlung nach Halbseitenlähmung gehe, gehe ich weniger - eher ziehe ich die rechte Seite nach.
- "Eine dezent ausgeprägte Hemiparese rechts" nennen sie im Krankenhaus die Überbleibsel meiner schlaffen Lähmung. Ursache ist eine Entzündung meiner linken Gehirnhälfte. Der Entzündungsherd sei größtenteils im Kleinhirn lokalisiert, verraten mir die Erstbehandelnden.
- Da jede Entzündung im Gehirn einen bleibenden Schaden hinterlässt, ist mein Kleinhirn entsprechend geschädigt. Das Muskelzittern und die fehlende Koordination stammen daher, denn feines Koordinieren und Muskeleigenspannung sind hier lokalisiert.
- Physiotherapie könne bei einer Schädigung des Gehirns etwas bewirken, sagen sie mir - vor allem im ersten halben Jahr der Lähmung und am ehesten bei jungen Patienten. Das Gehirn kann gezielt umlernen. Die um eine Schädigung gelegenen Areale übernehmen dabei die Aufgaben, die einst den zerstörten Bereichen zugekommen sind.
- Ich lasse mir also Physiotherapie verschreiben. Auf meinem Therapie-Rezept vom betreuenden Neurologen steht "10 x ZNS KG". Übersetzt heißt das: zehn krankengymnastische Zentralnervensystembehandlungen. Der Unterschied zu einer normalen Behandlung liegt in der Dauer: ZNS-Behandlungen nehmen 30 Minuten in Anspruch, während die Normaldauer 15 Minuten beträgt. Andererseits ist diese Spezialbezeichnung notwendig, damit die Krankenkasse den kostspieligeren Physiotherapeuten mit neurologischem Wissen bezahlt.
- Meine Therapeutin mit neurologischem Fachwissen nimmt mich am ersten Tag der Therapie-Serie unter die Lupe. Die linke Seite spannt zu viel an. Die rechte von sich aus gar nicht, merkt sie an. Sie drückt auf mir herum und lässt mich die wildesten Positionen einehmen. Dadurch will sie herausfinden, ob sie die Muskeln der rechten Seite überhaupt zum Spannen aktivieren kann.
- Ja, es funktioniert. Das aber nur kurz, dann lassen sie wieder nach. Um die natürliche Muskeleigenspannung rechts wiederherzustellen, müssen die Muskeln regelmäßig aktiviert werden, so sagt sie. Das Geheimnis sind langsame Bewegungen. Reißen bringt nichts, fügt sie hinzu. Genauso wenig bringt das Weitermachen bei einsetzendem Zittern etwas. Lieber eine kurze Pause, bis die Muskeln nicht mehr beben. Nur so spannen sie während der Übung auch wirklich.
Ein Bandscheibenvorfall kann starke Einschränkungen und Beschwerden mit sich bringen, diese gehen …
Ich gehe fortan zweimal pro Woche zur Physiotherapie. Diese Verteilung muss sein, sagen sie mir dort. Einmal die Woche hilft gegen eine ZNS-Schädigung nicht. Regelmäßigkeit ist entscheidend.
Reaktiviert! - Übungen zur Wiederherstellung des Muskeltonus nach Lähmungserscheinungen
Eines ist die Physiotherapie nicht: schnellwirkend. Bevor zum Muskeltraining übergegangen wird, muss beispielsweise erst Haltung geübt werden, denn Körperhaltung ist entscheidender Punkt für eine funktionierende Behandlung.
- Meine Therapeutin bemerkt, dass ich einen Rechtsdrall entwickelt habe - das liegt daran, dass mein Muskelzittern vor allem bei Entlastung und dem Lösen von Spannung auftritt. Je mehr Gewicht ich auf die rechte Seite verlagere, desto eher vermeide ich das Zittern. Das hilft mir gerade durch den Alltag, um die Muskeleigenspannung rechts aber wieder aufzubauen, ist es kontraproduktiv.
- Ich muss wieder lernen, mein Gewicht gleichmäßig auf beide Seiten zu verteilen. Das geschieht mithilfe von Trampolin und Sitzball. Auf dem Trampolin stehe ich erst mal nur - die Füße jeweils ein bisschen nach außen gedreht, die Knie ein wenig gebeugt und das Becken gerade. Später darf ich im Stand federn. Ich lerne so das natürliche Ausgleichen.
- Der Sitzball dient ähnlichen Zwecken. Ich setze mich darauf und stelle die Beine in einem ungefähren 90-Grad-Winkel zum Körper. Auch hier darf ich erst nur sitzen. Das Gewicht soll ich ausgeglichen auf beide Seiten verteilen. Später darf ich in dieser Position vor- und zurückrollen.
- Ich erhalte Hausaufgaben. Ich soll eine Viertelstunde am Tag mit geradem Becken, den Füßen leicht nach außen und den Knien leicht gebeugt auf beiden Beinen stehen. Das soll mein Gehirn wieder daran gewöhnen, gleichmäßig verteiltes Gewicht als Normalität zu empfinden. Noch tut es das nicht. Das eigentlich "normale" Stehen fühlt sich für mich schief an, weil ich mein Gehirn während meiner Lähmung auf "rechtsbetont = normal" umprogrammiert habe. Na, wenigstens beweist das, dass Umprogrammieren funktioniert.
- Zweite Hausaufgabe: Die natürliche Gewichtsverlagerung von links nach rechts und wieder zurück muss neu erlernt werden. Auch das mache ich im beschriebenen Stand. Mein rechtes Knie muss dabei von einer zweiten Person festgehalten werden, weil es sich bei der Verlagerung sonst auf eine Ausweichposition verdreht.
- Später übe ich die Verlagerung auch während des Gehens. Das funktioniert aber erst, als ich wieder ein Gefühl für die gleichmäßige Gewichtsverteilung auf beide Beine entwickelt habe. Um die Gehübungen noch zu unterstützen, übe ich das abwechselnde Verschieben des Beckens nach links und rechts.
- Als Stand und Gang etwas sicherer werden, darf ich mich an Trampolinsprüngen, Kniebeugen und Zehenspitzengängen versuchen. Mein Körper ist noch immer darauf gepolt, geforderte Bewegungen mithilfe anderer Muskeln auszuführen. Meine Physiotherapeutin verhindert diese Ausweichversuche regelmäßig, indem sie meine Position stabilisiert.
- Mehr Stabilität sollen auch gezielte Massagen und der Einsatz eines Schüttelbandes geben. Letzteres kennt der Fitnessfreund aus dem Fitnessstudio. Das Band kann gezielt um bestimmte Muskeln gelegt werden und regt diese durch Vibration zur Kontraktion an.
- Ich bemerke, dass das Gehen nach meinen zehn Sitzungen gezielter funktioniert. Vollständig verschwunden sind die Lähmungsschädigungen nicht. Dazu braucht es neben Regelmäßigkeit vor allem Dauerhaftigkeit. Reha-Kuren und eine Fortführung der Physiotherapie erscheinen sinnvoll.
Vielleicht wird immer ein kleiner Rest der Schädigung bleiben, aber merkliche Einschränkungen im Alltag habe ich nach ein paar Monaten nicht mehr - und das ist in weiten Teilen Verdienst meiner Physiotherapeutin.
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