Schlaffe Präludien, Vertrocknete Embryos & Co. - Saties skurrile Werktitel
- Wer einen ersten Blick in Saties Gesamtwerk wirft, dem präsentiert sich Satie als Meister der Provokation. Etliche Titel, besonders in seinem breit gefächerten Klavierwerk, sind alles andere als das, was zur damaligen Zeit der Spätromantik üblich war. Statt seinen Stücken neutrale oder romantisch angehauchte Titel zu geben wie "Präludium", "Nocturne", "Ballade" oder "Träumerei", wählt Satie ebenso blumige wie abschreckende Überschriften.
- Unter seinen Kompositionen finden sich beispielsweise zwei Klavierzyklen, von denen der erste "Schlaffe Präludien (für einen Hund)" enthält, während der zweite mit dem Titel "Wahrhaft schlaffe Präludien" bezeichnet ist. Wäre dies eine Ausnahme, so könnte ein Leser diese merkwürdige Titelgebung für einen Scherz des Komponisten handeln. Dieser vermeintliche Scherz zieht sich jedoch wie ein roter Faden durch sein gesamtes Oeuvre, denn ähnlich abschreckende, manchmal sogar regelrecht widerlich anmutende Überschriften wie "Vertrocknete Embryonen", "Melodien zum Weglaufen", "Kalte Stücke", "Quälereien" oder "Bürokratische Sonatine" sind bei Satie keine Seltenheit.
- Die einfachste Methode, mit dieser Art von Werktiteln umzugehen, ist es, eine Verbindung zum Humor zu ziehen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet wirkt Satie als ein Komponist, der eine Vorliebe für Ironie und Provokation an den Tag legt und der mit Vergnügen alles infrage stellt, was seine Zeit charakterisierte. Für diese Auffassung spricht auch seine persönliche Musiksprache, denn im Gegensatz zu der weit ausschweifenden, emotional überfrachteten Stilistik der Spätromantik sind Saties Werke meist kurz, schlicht und nahezu neutral gehalten. Diese Tatsache sorgte für das harte Urteil mancher Kritiker, Satie beherrsche sein Handwerk nicht wie andere Musiker und sei daher gar nicht in der Lage, komplizierter zu komponieren.
- Wenn Sie sich mit dieser Auffassung jedoch nicht zufriedengeben wollen, lohnt es sich, einen Blick hinter die oberflächliche Fassade Saties zu werfen. Hier zeigt sich kein spöttischer, stets auf Provokation ausgerichteter Draufgängertyp, sondern vielmehr ein überaus origineller wie sensibler und verletzlicher Komponist, der in vielen seiner Ansichten möglicherweise nur deshalb als schrullig abqualifiziert wurde, weil er seiner Zeit voraus war. In seinen zahlreichen Schriften sagt Satie selbst: "Ich wurde sehr jung in einer sehr alten Zeit geboren." Unabhängig von der ungewöhnlichen Art dieser Aussage wird hier angedeutet, dass Satie die Zeit, in der er lebte, als alt empfand, sich selbst beziehungsweise seine Musikauffassung dagegen als jung bezeichnete. Dass es hier unweigerlich zu Differenzen und Unverständnis kommt, ist nur eine natürliche Konsequenz.
Erik Satie Ecrivain - Satie als Schriftsteller
- Nicht nur als Komponist hat sich Satie künstlerisch betätigt, sondern in fast ebenso großem Ausmaß auch als Schriftsteller. Seine Schriften umfassen sämtliche Formen von Briefen, Notizen, Tagebucheinträgen bis hin zu ganzen Vorträgen. Durch die sprachliche Vielfalt und Saties unverkennbare Liebe zum Wortspiel präsentiert sich seine literarische Sammlung keinesfalls als trockene wissenschaftliche Abhandlung, sondern als großes Lesebuch, das jedem Leser etwas Passendes anzubieten hat.
- Saties Sprache zeichnet sich durch einen Stil aus, der in Worten schwer wiederzugeben ist, da er so viele Facetten hat. Auch hier hätte Satie selbst es nicht deutlicher ausdrücken können: "Ich bin weder gut noch böse. Ich schillere." Dieses Schillern charakterisiert seinen Kompositions- und Sprachstil möglicherweise besser als jedes andere Wort, denn es zeigt, dass Satie sich nicht in eine bestimmte Kategorie zwängen lässt.
- Besonders interessant sind jene Texte, die auf den ersten Blick hin vor Ironie zu strotzen scheinen, den Leser bei genauerem Hinsehen jedoch zunehmend vermuten lassen, dass Satie es möglicherweise doch ernst meint. Ein berühmtes Beispiel stammt aus den "Memoiren eines Gedächtnislosen" (schon der Titel verrät Saties Liebe zum Sprachspiel). Diese beginnen mit der Aussage "Jeder wird Ihnen sagen, ich sei kein Musiker." Im Hinblick auf Satie und seine Rezeption ist dies durchaus eine wahre und ernsthafte Aussage. Der nächste Satz lautet jedoch: "Das stimmt." Hiermit verlässt Satie abrupt die ernsthafte Ebene, indem er die Erwartungshaltung des Lesers bewusst täuscht, denn auf die erste Aussage würde man erwarten, dass nun der Beweis des Gegenteils folgt. Wer jedoch weiterliest, zweifelt bald an seinem Urteil, den Beginn als Ironie zu bezeichnen. Im Folgenden nämlich beschreibt Satie in extrem nüchternen und technischen Worten, wie sein Beruf aussieht. Statt Begriffe wie "Musik", "Ausdruck" oder "Gefühl" zu verwenden, bezeichnet er sich selbst als "Phonometrograph", dessen Ambition es ist, Töne zu messen und zu wiegen. Trotz der vermeintlich offenkundigen Ironie dieser Abhandlung kann der Leser sich über die Intention Saties nicht im Klaren sein, denn im Grunde ist das, was er über sich schreibt, tatsächlich nicht das, was der Leser im Allgemeinen von einem Musiker erwartet.
- Andere Texte, wie beispielsweise die Begleittexte zu seinen Kinderstücken, sind in einem ganz anderen Stil geschrieben. Sie sind geprägt von einer kindlichen Sprache, die nur durch manche speziellen Wörter erkennen lässt, dass ein Erwachsener sie geschrieben hat. Ein Beispiel ist das Werk mit dem liebenswürdigen Titel "Der Kriegsgesang des Bohnenkönigs". Hier erzählt Satie in kurzen und einfachen, aber blumigen Worten eine Geschichte für Kinder, so wie Kinder sie aus ihrer Sicht erleben. Statt die Spiele der Kinder zu belächeln, erscheint es dem Leser, als würde Satie sich als Erwachsener selbst in die kindliche Welt hineinversetzen und aus kindlicher Sicht schreiben.
Ironie in der Musik - geht das überhaupt? Der Gedanke, dass ein Komponist mit seiner Musik etwas …
(Möbel-)Musik für Fortgeschrittene - Saties Musikästhetik
- Dass es Satie mit seinem Werk um wesentlich mehr beziehungsweise um etwas völlig anderes ging als darum, seine Zeitgenossen zu provozieren, zeigt seine sogenannte Möbelmusik oder, wie sie im französischen Orignal heißt, seine "musique d'ameublement". Die Idee zu diesem Werk entstand 1918 und gibt mehr als alle anderen seiner Kompositionen Einblick in seine persönliche Musikauffassung.
- Der ungewöhnliche Titel des Werks deutet bereits an, worum es Satie hier geht. Sein Ziel ist eine Musik, die wahrgenommen wird wie Möbelstücke im Raum, die man nicht ansieht, sondern nur aus dem Augenwinkel wahrnimmt, ohne sie zu betrachten. Die Konsequenz ist, dass man einer Möbelmusik nicht zuhören darf, sondern sie ebenfalls nur im Hintergrund wahrnehmen soll.
- Die erste "Aufführung" der Möbelmusik fand im Rahmen einer Kunstausstellung statt. Die Musiker saßen vorne und spielten, und die Zuhörer setzten sich wie bei jedem anderen Konzert hin, um der Musik zu lauschen. Satie regte sich furchtbar auf, sie sollten aufstehen, herumgehen und sich unterhalten, aber auf keinen Fall zuhören, worauf das Publikum mit Unverständnis reagierte.
- Dass Saties Zeit für diese Art des Konzertwesens noch nicht bereit war, ist aus heutiger Sicht nur zu verständlich. Es zeigt jedoch ebenfalls, dass Satie seiner Zeit weit voraus war, denn das, was in seiner Möbelmusik praktiziert wird, kennen wir heute aus Kaufhäusern, Supermärkten und anderen öffentlichen Plätzen. Es ist die permanente Dauerberieselung von Hintergrundmusik, die psychologischen Einfluss auf das Kaufverhalten haben soll. Natürlich wird Satie jedoch mit seiner Möbelmusik andere, weniger berechnende Intentionen verfolgt haben. Möglicherweise hatte er eine Art Meditation im Sinn, die durch die Musik ausgelöst wird und Unterhaltungen nicht stört, sondern bereichert.
- Musikalisch handelt es sich bei der Möbelmusik um extrem kurze Stücke von nur wenigen Takten, die konsequent auf Spannung, Dramatik und alles, wodurch sie die Aufmerksamkeit sonst noch auf sich ziehen könnte, verzichtet. Wer ihr bewusst zuhört, wird sie darum vermutlich als langweilig empfinden, doch genau damit hätte Satie sein Ziel erreicht. Die Möbelmusik zwingt den Hörer nicht, ihr zuzuhören, sondern verleitet ihn dazu, seine Gedanken schweifen zu lassen und anderen Dingen zuzuwenden.
- Unter diesen Bedingungen erhält Saties Werk auf einmal einen ganz neuen Stellenwert. Sicherlich ist er kaum mit Komponisten wie Beethoven, Mozart oder Schumann zu vergleichen, die wesentlich besser in das Bild eines herkömmlichen Musikers passen. Trotz der Einfachheit seiner Musiksprache ist Saties Werk jedoch nicht weniger originell als das vieler seiner Zeitgenossen und Vorgänger. Seine Andersartigkeit verlangt lediglich einen ebenso sensiblen wie differenzierten Umgang. Sie erfordert einen Rezipienten, der sich unvoreingenommen auf diesen ungewöhnlichen Musikstil einlässt. In diesem Fall hat Satie möglicherweise mehr zu bieten als etliche andere Komponisten.
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