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"Moderne Landschaft" von Uwe Gressmann - eine Interpretationshilfe

Moderne Landschaft als menschliche Heimat?
Moderne Landschaft als menschliche Heimat?
Uwe Gressmann's Leben war kurz. Bereits 1969 war es nach nur 36 Jahren wieder zu Ende. Nur ein Buch hatte er zu Lebzeiten veröffentlicht. Ein Weiteres konnte er vorbereiten, bevor er starb. Bedeutend ist er dennoch geworden. "Moderne Landschaft" gehört zu den expressionischen Gedichten, die nicht nur die Moderne selbst, sondern auch ihre Geisteshaltung zum Ziel haben.

Was Sie benötigen:

  • Originaltext

Die Substantive in "moderne Landschaft"

Moderne Landschaft (von Uwe Gressmann)

Stahlbäume wachsen auf den Bürgersteigen

Und es zweigen die Drähte

von Baum zu Baum

Darunter brüllen

Die elektrischen Tiere

Mit Menschen im Herzen vorüber

Und so mancher gehet vorbei dort

Und findet nichts weiter dabei;

Denn die steinerne Landschaft

Ist ja auch seine Mutter

  • Suchen Sie in diesem Gedicht zuerst die Substantive. Diese sind "Drähte", "Baum", "Tiere", "Menschen", "Herzen", "Landschaft", "Mutter". Legen Sie den Titel "Moderne Landschaft" an das Gedicht an, so haben sie bis auf drei Wörter alle nichts mit "Moderne" zu tun. Wohl aber mit "Landschaft". Eine Landschaft an sich ist aber nicht modern, sondern sie ist da. Sie wird erst durch die Wahrnehmung des Menschen zur Landschaft und kann auch durch ihn verändert werden.
  • Nun ist die Moderne per definitionem Menschengemacht. Wenn wir also von "moderner Landschaft" sprechen, sprechen wir von einer menschengemachten Landschaft. Es gibt also einen offenkundigen Unterschied zwischen der Landschaft an sich und der menschengemachten Landschaft. Und dieser ist es, worauf das Gedicht zielt. Wenn Uwe Gressmann also eine moderne Landschaft beschreibt und alle Substantive bis auf zwei in einer Landschaft an sich verortet werden können, so können Sie davon ausgehen, dass es sich um Metaphern handelt.
  • Indem er in die Beschreibung einer modernen Landschaft, Metaphern aus der Landschaft an sich einführt, macht er die beiden einander vergleichbar. Der Mensch blickt auf die Landschaft an sich und geht mit der Landschaft an sich um. Er ist es auch, der die moderne Landschaft schafft. Er ist die Brücke. Gebrochen wird das Bild durch die Drähte.

Uwe Gressmann als Dichter und Maler

  • Uwe Gressmann ist in diesem Gedicht Maler. Der Leser blickt mit ihm auf die Landschaft, die er beschreibt. Da gibt es Bäume, Tiere die Herzen haben und Mütter. Und doch ist sie modern. Sie ist menschengemacht, sie ist steinern, sie ist Stadt. Gressmann beschreibt in seinem Werk den Großstadtdschungel, der lebt und bebt, gebiert und vergehen lässt. Die Menschen hasten, sie sind beiläufig und kommen in der Landschaft nur noch vor.
  • Sie werden zu Tieren. Gressmann stellt die Frage nach dem menschlichen Sein in der Moderne und legt dabei eine Kulturkritik an den Tag, wie sie in anderem Feld bei dem Anthropologen Konrad Lorenz deutlich wurde. Bedeutsam ist dabei nach Auffassung des Verfassers auch der Umstand, dass das Gedicht in der DDR verfasst wurde und damit im Kommunismus.
  • Dieser verstand sich nicht nur als revolutionär, sondern auch als permanente Avantgarde, als ständiger Weg in den (technischen) Fortschritt. Nun bedeutet technischer Fortschritt auch bei Marx zunächst die Industrialisierung und geht dann weiter zur revolutionären Vergesellschaftung. Dies betrachteten die Kommunisten in ihrem System als erfüllt, denken Sie an die vielen VEB's (Volkseigenen Betriebe).
  • Genau diese Industrialisierung und Mechanisierung, die Verstädterung der Landschaft und damit die Entfremdung des Menschen von Landschaft an sich und Natur ist es, auf die das Gedicht abzielt. Es ist keine Gesellschaftskritik, es ist Kritik an einem kalten System, das den vergesellschafteten Menschen hervorgebracht hat, der eben "vorbei gehet" und nichts empfindet. Denn schließlich ist auch er irgendwann ein Produkt der Stadt.
  • Der Mensch wird schließlich auch von seiner Umwelt gemacht. Umwelt sind Lebensumstände, Freunde, Verwandte, Nöte und auch die Umgebung in der er aufwächst, an die er gewöhnt ist. Wenn der Mensch nichts kennt außer der steinernen Landschaft, der Stadt, der Industrie, des technischen Fortschritts, dann ist es normal, der Mensch wird stumpf. Er hört auf zu fragen, weil es ihm vertraut ist und es ihn hervorgebracht hat.
  • Den Menschen bringt letztlich die Mutter hervor und wenn Uwe Gressmann die steinerne Landschaft als Mutter des Menschen bezeichnet, so ist dies wirklich letzte Konsequenz. Die vollkommene Abkehr, die Herausnahme des Menschen aus der Natur wird hier manifestiert. Das Gedicht ist damit nicht nur subversive Handlung gegen ein totalitäres Regime, sondern es ist auch Aufschrei gegen die menschengemachte Entfremdung seiner selbst von der Natur, der er doch eigentlich angehört.
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